Harry Graf Kessler

 

 

Die Tagebücher 1918-1937 des Harry Graf Kessler sind als eBook für den Kindle bei Amazon umsonst zu lesen und für "Verschwörungstheorien" eine riesige Fundgrube. Hier ein Beispiel (wird bei Gelegenheit fortgesetzt):

 

Am 24. Juni 1928 erscheint sein Rathenau Buch. Mittags die Gründung der Rathenau-Gesellschaft, zu der Bert Brecht das Buch von Kessler vorlegt. Alle einschlägigen Zeitungen berichten über das Werk.

 

Am 21. Juli 1928 veröffentlicht Ossietzky einen Brief von Poincaré an den Separatistenführer Matthes, in dem er sich gegen Kesslers angebliche Behauptung in dessen „Rathenau“ zur Wehr setzt, er (Frankreich) habe zur Zeit der Genua-Konferenz die Rheinlande annektieren wollen.

 

Am 13. August 1928 erhält Harry Graf Kessler einen Brief von Poincaré, in dem dieser grundsätzlich abstreitet, die Separatisten im Rheinland gefördert zu haben. Selbstverständlich wusste jeder politisch und geistig mündige Bürger, dass die rheinische Separatistenbewegung ein Werk der Franzosen war.

 

Am 17. August konferiert Kessler mit Ossietzky im Berliner Büro der Weltbühne. Ossietzky sei von Tucholsky zur Veröffentlichung des Briefes von Poincaré überredet worden. Tucholsky habe auf die Veröffentlichung gedrängt, weil er Matthes in Paris kennengelernt und sympathisch und hilfreich gefunden habe. Ossietzky verspricht Kessler, dessen Erwiderung auf die Vorwürfe zu veröffentlichen.

 

Das alles ergibt scheinbar keinen Sinn auf den ersten Blick. Wem nützte dieser Streit?

 

Er nützte dem Grafen Kessler, dessen Buch so ins Gespräch gebracht und den braven deutschen Patrioten zum Kauf empfohlen wurde. Kessler hat also Raymond Poincaré (französischer Ministerpräsident vom Juli 1926 bis November 1928) für seine Buchwerbung mobilisieren können.

 

Wer den Buchhandel etwas kennt, dem ist diese Methode vertraut, rechtzeitig zur Erstauflage eines Werkes noch einen großen Skandal um dessen Inhalt zu inszenieren, einen bitteren Streit womöglich, der in Wahrheit ein abgekartetes Spiel zwischen Freunden oder Spießgesellen ist.

 

Die Frage, für welche Interessen der pausenlos in Europa reisende und unentwegt mit den wichtigsten Persönlichkeiten (angeblich aber bevorzugt über Kunst und Kultur) konferierende Graf Kessler als Agent gearbeitet hat, dürfte eine spannende Geschichte ergeben.

 

Am 9.Dezember 1931 frühstückt Graf Kessler mit Eduard von der Heydt, einem Bankier mit Beziehungen zu Thyssen, Privatbankier des ehemaligen Kaisers Wilhelm II im Exil; er half dem Stinnes-Konzern, als der Probleme mit Berliner Banken hatte; während des Ersten Weltkriegs war Heydt im diplomatischen Dienst und zu geheimen Verhandlungen mit England in Den Haag gewesen.

 

Er eröffnete 1920 in Amsterdam die „Von der Heydt-Kersten's Bank“. Diese reüssierte insbesondere als Vertretung des Bankhauses S. Bleichröder und anderer namhafter Bankhäuser. Daneben war von der Heydt an der Berliner „Nordstern-Bank“ beteiligt, die später als „Von der Heydt's Bank“ firmierte, 1927 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, von der Familie Thyssen übernommen und 1930 in „August-Thyssen-Bank“ umbenannt wurde. Von der Heydt blieb Mitglied des Aufsichtsrats. (Quelle: Wiki)

 

In New York hatte er ein Jahr lang für das Bankhaus Belmont gearbeitet.

 

Politisch vertrat von der Heydt, auch aufgrund seiner engen persönlichen Beziehungen zum Haus Hohenzollern, nationalkonservative und monarchistische Positionen. 1926 war er dem Stahlhelm beigetreten. Obwohl seine Frau jüdischer Herkunft war und er zahlreiche jüdische Freunde und Bekannte hatte, finden sich in Briefen aus den 20er Jahren auch antisemitische Äußerungen. Seit dem 1. April 1933 war von der Heydt Mitglied der NSDAP, aus der er 1939 austrat, nachdem er am 28. April 1937 die Schweizer Staatsbürgerschaft erworben hatte. Er wurde dann Mitglied im schweizerischen „Bund treuer Eidgenossen“, der dem Nationalsozialismus nahe stand. (Quelle: Wiki)

 

Über die August-Thyssen-Bank, in deren Aufsichtsrat Heydt saß, erhielten die Agenten der deutschen Abwehr ihr Geld.

 

Während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs wickelte die August-Thyssen-Bank den gesamten Zahlungsverkehr der deutschen Abwehr unter Admiral Canaris ab. Über von der Heydt als Schweizer Repräsentant der August-Thyssen-Bank und ab 1940 auch über seine persönlichen Konten bei der Schweizerischen Bankgesellschaf flossen zwischen 1939 und 1943 mehr als eine Million Schweizer Franken an deutsche Agenten in aller Welt, insbesondere in den USA und Mexiko. Weitere, weniger gut dokumentierte Vorwürfe gegen von der Heydt betreffen die Devisenbeschaffung sowie die Weiterleitung jüdischer Lösegeldzahlungen. In welchem Umfang von der Heydt persönlich in diese Geschäfte involviert war, ist bis heute umstritten. Andererseits unterstützte er nachweislich jüdische Flüchtlinge in der Schweiz und stand in Kontakt mit diplomatischen Vertretern der Westmächte, denen er Informationen lieferte und denen gegenüber er sich als Nazigegner darstellte. (Quelle: Wiki)

 

Wilhelm Canaris wurde vermutlich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg von den Briten angeworben, die zunächst für seine „erfolgreiche“ Arbeit in Lateinamerika sorgten.

 

1908 half Canaris dem Kommandanten der SMS Bremen, ein V-Mann-System in Argentinien und Brasilien auszubauen. Dabei kam ihm zu gute, dass er sehr schnell die spanische Sprache erlernte. Die Bremen gehörte 1909 zur internationalen Blockadeflotte, welche die Küste Venezuelas blockierte. Canaris, der am 28. September 1908 zum Leutnant zur See befördert wurde, wurde Adjutant der Bremen und bewährte sich bei den Verhandlungen derart, dass er vom venezolanischen Präsidenten und General Juan Vicente Gómez mit dem Bolivar-Orden V. Klasse ausgezeichnet wurde. (Quelle: Wiki)

 

Der zielstrebig gepflegte Ruhm des Wilhelm Canaris als genialer Agentenführer brachte ihn dann an die Spitze der deutschen Abwehr.

 

Aber zurück zum Frühstück des Grafen Kessler mit Heydt am 9. Dezember 1931. Kessler erfuhr von Heydt, dass Hitler am nächsten Tag nach Berlin kommen und Heydt ihn sprechen werde. Frankreichs Botschafter in Berlin, André François-Poncet, wolle Kontakte zur NSDAP und Heydt solle auch im Auftrag der Großindustrie den Vermittler spielen. Kessler erwähnt seine Gespräche mit Poncet kurz nach dem Krieg, in denen dieser der deutschen Großindustrie den Schutz durch die französische Militärmacht vor ihren Arbeitern empfahl, um den Lebensstandard der Arbeiter nieder zu drücken und billiger produzieren zu können.

Guy de Pourtalès mit Lenin und Trotzki

Kessler trifft am 16. Juni 1933 in Paris Guy de Pourtalès in dessen Studio.

 

Er erzählte, daß er auf seinem Gut in der Schweiz während des Krieges sowohl Lenin wie Trotzki als Mieter gehabt habe; allerdings ohne zu wissen, wer Lenin, der sich Uljanow nannte, wirklich sei. Er habe sie oft in die Stadt gefahren und mit ihnen geplaudert. Als der Bedeutendere sei ihm Trotzki erschienen, aber Lenin habe mehr Seele gehabt. ... Zu den von Lenin am meisten gelesenen Autoren hätten Nietzsche und Maupassant gehört. 

(Kessler, 16. Juni 1933)

 

 

Harry Graf Kessler mit Brüning über Franz von Papen

Am 20. Juli 1935 trifft Kessler angeblich zufällig in einer Buchhandlung in Paris den ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning in Begleitung von Annette Kolb. Brüning lädt Kessler zum Abendessen mit ihm und Annette Kolb ein. Beim Abendessen macht Brüning nach Kessler die folgende Aussage zu Franz von Papen, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs Militärattaché in den USA gewesen war, also der verantwortliche Mann für deutsche Agenten und Geheimoperationen und Einflussnahmen:

 

Auf meine Anspielung auf die Talon-Affäre Papens in Amerika meinte Brüning, die sei noch lange nicht das Schlimmste, was sich Papen geleistet habe. Trotz dieses lächerlichen Fiaskos in Amerika habe man ihm nach seiner Rückkehr die Aufstellung einer geheimen Spionage-Organisation in Belgien anvertraut. Und nachher habe sich herausgestellt, daß alle seine „Agenten“ englische Secret-Service-Leute gewesen seien. Infolgedessen wurden fortlaufend die Pläne des deutschen Generalstabs an die Engländer durchgegeben und jede beabsichtigte Offensive ihnen lange vorher gemeldet. Folge: Hunderttausende von unnötigen Opfern auf deutscher Seite. Ein früherer deutscher Agent von Papen in Amerika, v. Rintelen, der sein Opfer geworden war, habe das in einem Buch geschildert.

(Kessler, 20. Juli 1935)

 

Der meist als reaktionärer und völlig unfähiger Herrenreiter dargestellte Franz von Papen hatte vor seiner politischen Karriere in führender Position mit Geheimdiensten zu tun.

 

Papen was expelled from the United States during World War I for alleged complicity in the planning of sabotage such as blowing up U.S. rail lines. On 28 December 1915, he was declared persona non grata after his exposure and recalled to Germany. En route, his luggage was confiscated, and 126 check stubs were found showing payments to his agents. Papen went on to report on American attitudes, to both General Erich von Falkenhayn and Wilhelm II, German Emperor.

In April 1916, a United States federal grand jury issued an indictment against Papen for a plot to blow up Canada's Welland Canal, which connects Lake Ontario to Lake Erie, but Papen was then safely home;

Wiki (engl): Franz von Papen

 

Derartig bösartige Anschläge in den zu Kriegsbeginn noch neutralen USA - deren Bevölkerung einen Kriegseintritt gegen Deutschland noch bis 1916 mehrheitlich abgelehnt hat - ins Werk zu setzen, also so blöde kann ein deutscher Militärattaché wirklich nicht sein. Das ist absurd, wenn der Mann nicht andere Zwecke und Interessen verfolgt, als die seines Landes. Ebenso wird er nicht die Abrechnungen seiner Agenten im Gepäck mit sich führen, wenn er nicht geplant und abgesprochen hat, diese den Briten in die Hände fallen zu lassen. Angeblich habe er darauf vertraut, dass die Briten bei der Kontrolle sein Diplomatengepäck nicht anrühren würden.

 

Aber die deutsche Regierung hat keinen Verdacht geschöpft und ihm sogar weiter sehr wichtige Aufgaben anvertraut:

 

Later in World War I, Papen served as an officer first on the Western Front, from 1917 as an officer on the General Staff in the Middle East, and as a major in the Ottoman army in Palestine.

Papen also served as intermediary between the Irish Volunteers and the German government regarding the purchase and delivery of arms to be used against the British during the Easter Rising of 1916, as well as serving as an intermediary with the Indian nationalists in the Hindu German Conspiracy. Promoted to the rank of lieutenant-colonel, he returned to Germany and left the army at the war's end in 1918. (Quelle: Wiki)

 

Franz von Papens „Misserfolge“, sowohl in den USA wie später in anderen geheimen Missionen, dürften - wie seine anschließende politische Karriere und seine Rolle bei der Bildung der Regierung Hitlers - leicht damit zu erklären sein, dass er schon als Militärattaché an der deutschen Botschaft in den USA die Seite gewechselt haben muss.

 

Zu Heinrich Brüning sollte man wissen, dass seine politische Karriere womöglich mit seinem Studium der Nationalökonomie an der London School of Economics kurz vor dem Ersten Weltkrieg erklärt werden kann. Die LSE wurde von der Fabian-Society gegründet und stand unter dem Einfluss der Cecil-Familie und dem Kreis um Lord Milner und das politisch einflussreiche Balliol-College der Universität Oxford. Ein eifriger Student aus Deutschland blieb an der London School of Economics sicher nicht unbeachtet.