Der große (Er-)Finder Sergei Nilus

Hagemeister will es nur andeuten:

 

Wie kommt es zu diesen weitreichenden Übereinstimmungen? Die einfachste Erklärung wäre, dass der oder die Verfasser der Protokolle  – die sehr wahrscheinlich zwischen April 1902 und August 1903, also nach dem Erscheinen von Solov’evs Erzählung, in Russland entstanden sind – sich durch Solov’ev inspirieren ließen. Da wir aber nicht wissen, wer die Protokolle fabriziert hat, lässt sich diese Vermutung nicht beweisen.
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Sergej Nilus ist nicht nur der prominenteste Herausgeber und Kommentator der  Protokolle, er ist auch – und hier schließt sich der Kreis – der angebliche Entdecker der apokalyptischen Prophezeiungen des Serafim von Sarov. Im Juni 1902 erhielt Nilus, wie er selbst berichtete, bei einem Besuch des Klosters von Diveevo im Gouvernement Nižnij Novgorod ein Bündel vergilbter und verschmutzter Blätter, in dem er Aufzeichnungen frommer Belehrungen und Prophezeiungen Serafims entdeckte, darunter auch den apokalyptischen Text über den Antichrist und Russland. Dies geschah – vielleicht nicht zufällig – genau ein Jahr bevor Serafim auf Betreiben des Herrscherhauses in einer pompösen Zeremonie heiliggesprochen wurde. Die Aufzeichnungen, so Nilus, seien zunächst unlesbar gewesen, aber „auf wunderbare Weise“ sei es ihm schließlich gelungen, sie zu entziffern und abzuschreiben. Die Originale sind seitdem verschollen. Wie im Falle der Protokolle, so ist auch der Ursprung der Prophezeiungen Serafims ungeklärt, doch liegen die trüben Quellen, denen beide entstammen, wohl nur allzu nahe beieinander.

Michael Hagemeister: Trilogie der Apokalypse

 

Eigentlich kann es keinen Zweifel geben, Sergei Nilus (1862-1929) war ein professioneller Fälscher und sprach gut Französisch, Englisch und Deutsch. Er stammte aus einer begüterten Familie, studierte in Moskau Jura und arbeitete als Beamter im Südkaukasus. Die Stellung gab er bald auf und lebte mit einer Geliebten in Biarritz in Frankreich bis er sein Vermögen in Russland verlor und allein nach Russland zurück kam. Dort verkehrte er in sehr religiösen Kreisen und am Zarenhof, wo er sein Schreibtalent entdeckte.

 

Er soll nach 1900 vom russischen Mystiker, Wundertäter und Prediger Johannes von Kronstadt zum Mystizismus bekehrt worden sein und veröffentlichte mit Erfolg mystisch-religiöse Schriften. Michael Hagemeister beschreibt sehr gut in diesem verlinkten Paper die nicht leicht erkennbaren Übereinstimmungen von Vladimir Solov’evs Erzählung vom Antichrist mit den von Nilus angeblich entdeckten Prophezeihungen des Heiligen Seraphim von Sarov und schließlich den berüchtigten Protokollen. Womit die Suche nach dem Verfasser beendet sein dürfte: Nilus wird in Frankreich die später zur Fälschung der Protokolle genutzte Satire von Maurice Joly, die gegen Napoléon III. gerichtet war, gelesen haben und ebenso das 1896 erschienene Buch Biarritz von Hermann Goedsche. Nur darf das kein Historiker so behaupten, weil die Lehren und Prophezeihungen des Heiligen Serafim noch heute in Russland fast so berühmt sind wie die Protokolle.

 

Die Schuld für den Konkurs seiner Güter soll Sergei Nilus bei der Finanzpolitik des Finanzministers Sergej Witte gesehen haben, der in Russland den Goldstandard durchgesetzt hatte und damit eine deflationäre Entwicklung der Preise bei hohen Kreditzinsen durch die restriktive Geldpolitik verschuldete. Das erklärt die erstaunliche Aussage der Protokolle zur Auslösung von Krisen durch restriktive Geldpolitik, was dem Leserkreis der Protokolle generell völlig unverständlich ist und nur Spezialisten der Geldpolitik verstehen, alle anderen finden einen Goldstandard gut, Schuldenmachen schlecht und halten das Geldsparen für wichtig.

 

3. Protokoll:

13. Dieser Hass wird infolge der Wirtschaftskrise noch zunehmen, durch die das Börsengeschäft und Industrie und Gewerbe schließlich lahmgelegt werden. Mit Hilfe des Goldes, das ganz in unseren Händen ist, werden wir mit allen verborgenen Mitteln eine allgemeine Wirtschaftskrise erzeugen und ganze Massen von Arbeitern in allen Ländern Europas gleichzeitig auf die Straße werfen. Diese Massen werden sich dann blutgierig auf diejenigen stürzen, sie sie in ihrer Einfalt von Jugend her beneiden, und denen sie endlich ihr Eigentum rauben können.

 

Das war keine Prophezeihung der Weltwirtschaftskrise ab 1929, sondern Erfahrung: Alle Wirtschaftskrisen im 19. Jahrhundert waren durch den Goldstandard verursacht, unter dem die Zentralbank bei zu guter Konjunktur den Abfluss der Goldreserven verhindern muss, indem sie mit hohen Zinsen eine mehr oder weniger mörderische Rezssion auslöst. Das wussten aber nur ganz wenige ökonomisch Gebildete, der begabte Schriftenfälscher Sergei Nilus sollte davon einer gewesen sein.